Kann man die neue Verfassung als Oberwalliser:in annehmen?

Heute ist der letzte Tag im Verfassungsrat. Die Schlussdebatte steht an. Der Entwurf, über den wir heute abstimmen werden, wurde während 4 1/2 Jahren erarbeitet. Wir haben auf einem weissen Blatt begonnen, Grundsätze formuliert, Expert:innen angehört, verhandelt, gerungen, im Plenum debattiert, und schliesslich über jeden einzelnen Artikel abgestimmt. Entstanden ist ein Entwurf mit über 200 Artikeln.

 

Das Ergebnis ist – aus Oberwalliser Sicht - durchzogen. Wir fanden für unser  Anliegen hinsichtlich politischer Vertretung kein Gehör. Der letzte Tag ist denn auch etwas bedrückend. Gerne würde ich die Arbeit, die letzten 4 1/2 Jahre, feiern. Insgesamt war es eine grossartige, lehrreiche Erfahrung. Doch was überwiegt am Ende? Die Freude oder der Verdruss?

Wann hat eine Minderheit ausreichend politische Mandate? Wie könnten Schutzmassnahmen ausgestaltet sein? Soll die Bevölkerungszahl abgebildet werden? Braucht es Quoten? Für Regionen? Sprachen? Auch für Geschlechter? Und warum setzen wir uns im Oberwallis so vehement für eine angemessene Vertretung unserer Region ein, nicht aber der Geschlechter? Dies alles sind Fragen, die ich mir im Laufe der Jahre immer wieder stellte. 

 

Nun, ich hätte mir ein Entgegenkommen der Mittel- und Unterwalliser Verfassungsrät:innen bei der «Oberwalliser Frage» sehr gewünscht. Es gab einige, die aktiv mitdachten, Ideen entwickelten, Gespräche führten. Anderen war es einfach egal. Mit dem Ergebnis: Wir konnten keine namhaften neuen Schutzmechanismen für das Oberwallis definieren. Diese waren aber auch in der alten Verfassung nicht drin. Was also ändert die neue Verfassung in dieser Hinsicht? Ich werde es unten darstellen. Es ist nicht so viel, wie es in den Medien oft den Anschein machte. Aber für einige genug, die neue Verfassung abzulehnen.

 

Als erstes will ich aufzeigen, was die neue Verfassung Gutes mit sich bringt. 

Exkurs: Warum die neue Verfassung auch ein Meilenstein ist.

Ich fange mit einem kleinen Rückblick an, um aufzuzeigen, wie gross die Meilensteine sind, die wir in einigen Bereichen erreicht haben. Z. B. in der Familienpolitik. Und warum mir dies so viel bedeutet. 

 

Ich habe in der ersten Lesung in der Kommission 6 mitgearbeitet: Aufgaben des Staates, Familie, Bildung, Soziales. Dies sind meine Schwerpunkte auch in meinen bisherigen beruflichen Tätigkeiten. Ich wechselte zu Beginn der Arbeiten im Verfassungsrat gerade beruflich von der Schulleitung in Zermatt, Täsch, Randa zur Stiftung Kinderschutz Schweiz. An beiden Orten ist die Frühe Kindheit ein zentrales Thema. Dass sich Investitionen in die Frühe Kindheit lohnen, ist mir als Fachperson längst bekannt (hier die Heckman-Kurve, die das zeigt). Dies der Politik beizubringen, ist aber ein sehr schwieriges Unterfangen.

 

Im Rahmen des Projekts Primokiz der Jacobs Foundation versuchten wir, eine Politik der Frühen Kindheit in unserer Schulregion zu verankern. In den Gemeinden gibt es Ressorts für Bau, Verkehr, öffentliche Sicherheit. Aber kaum je für Familien. Unser langfristiger Wunsch war, das Ressort Bildung und Soziales mit diesem Themenbereich zu ergänzen, oder zumindest eine Kommission zu gründen. Es war uns ein Anliegen, dass die Gemeinde das Wohlergehen der Familien und Kinder im Dorf mehr gewichtet. Weil hier mit relativ wenig Aufwand viel bewirkt werden kann. Das Thema war aber noch relativ neu auf der politischen Agenda, Kindheit gehört(e) gemäss der Ansicht der Verantwortlichen ins Private. Aber dem ist nicht so. Wir tragen als Gesellschaft eine Verantwortung für das Wohlergehen der Kinder. 

 

Nun, in der Kommission 6 und im Plenum des Verfassungsrats erhielten wir Gehör. Es gelang uns, in der neuen Verfassung Artikel für eine umfassende Familienpolitik sowie eine Politik der frühen Kindheit zu verankern, wir aktualisierten auch die Kinderrechte. Dies sind nun Grundlagen, die Familien und Kindern in ihrem direkten Alltag zu Gute kommen werden. Natürlich müssen diese noch in Gesetze formuliert und umgesetzt werden. Aber wir waren noch nie näher dran. Ich traute manchmal meinen Augen nicht. Wer wie ich schon länger in diesen Themen unterwegs ist, kann sich vorstellen, was für Meilensteine dies sind. Und so ging es uns auch hinsichtlich anderer Themenbereiche, der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen beispielsweise.

 

Leider finden diese Aspekte in der öffentlichen Debatte kaum Eingang. 

Was bringt die neue Verfassung?

Was steht jetzt also alles Gutes in der neuen Verfassung? (Ich liste hier aus sozialliberaler Sicht auf. Es ist klar, dass konservative Kreise nicht alle dieses Aspekte positiv bewerten). 

  • Der Kanton wird verpflichtet, seine Aufgaben dezentral zu erfüllen und für deren gerechte Verteilung auf dem Kantonsgebiet zu sorgen. Deutsch und Französisch werden gleichwertige Amtssprachen des Kantons. 
  • Wir haben einen umfassenden und humanistischen Grundrechtskatalog definiert, der über jenen der Bundesverfassung hinausgeht. Ein paar Beispiele:
    • Die Kinderrechte wurden in eine aktuelle Form gebracht, mit dem Recht auf Entfaltung, auf Schutz der persönlichen Integrität und dem Anspruch auf rechtliches Gehör ab dem Kleinkindalter.
    • Die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf eine volle Teilhabe und Autonomie wurden gestärkt. So unterstützen Kanton und Gemeinden mit der neuen Verfassung die Gebärdensprachen
    • Rechte für ältere Menschen wurden definiert, das Recht auf Bildung und Ausbildung wird gewährleistet ebenso wie das Recht auf Inklusion und Integration. In all diesen Punkten geht es um die Teilhabe aller an der Gesellschaft. Um Chancengerechtigkeit. 
    • Neu in der Verfassung sind zudem das Recht auf digitale Integrität und das Recht auf menschliche Interaktion, d.h. das Recht auf Interaktion mit einem Menschen in Situationen, die für die Wahrung ihrer Rechte wesentlich sind.
  • Der Kanton unterstützt das solidarische Handeln der Privaten und das Handeln der betreuenden Angehörigen. Was etwas gestelzt tönt, ist nichts anderes als die Aufwertung des ganzen Bereichs der Care-Arbeit. Und zwar nicht nur innerhalb der Familien, sondern auch im privaten Umfeld, was einem sehr zeitgemässen und zukunftsweisenden Ansatz entspricht. 
  • Kanton und Gemeinden führen Massnahmen zur Unterstützung der Elternschaft ein. So soll eine Elternzeit eingeführt und der Bereich der frühen Kindheit gefördert werden. Weiter gewährleisten Kanton und Gemeinden den Zugang zu bezahlbaren familien- und schulergänzenden Kinderbetreuungsangeboten.
  • Im Bereich von Energie und Klima, wird im Verfassungsentwurf festgelegt, dass die Rahmenbedingungen für eine sichere und ausreichende Energieversorgung gewährleistet werden müssen, dass einheimische und erneuerbare Energie ebenso wie die Energieffizienz gefördert werden und dass der Kanton Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels ergreift. 
  • Die neue Verfassung zielt auf die Wirtschaftsförderung ab. Neu ist in der Verfassung ein Artikel für einen qualitativ hochwertigen Tourismus enthalten. Der Anspruch auf eine nachhaltige Entwicklung wurde überall transversal eingefügt. 

Was fehlt in der neuen Verfassung?

Vielmehr im Fokus der öffentlichen Debatte, der Medien und der politischen Parteien stehen die politischen Dimensionen. Hier zeigte sich, wie stark wir im Wallis regional denken und geprägt sind. 

 

Wir haben für das Oberwallis nicht erreicht, was wir uns zum Ziel setzten. Die neue Verfassung bringt also nicht die erhofften Sitzgarantien. Vieles bleibt im Vergleich zur alten Verfassung schlicht unverändert, einige Aspekte führen zu Unsicherheiten. Schauen wir dies genauer an. 

  • Ständerat: wie in der alten Verfassung gibt es keine Sitzgarantie für das Oberwallis. Hingegen ein Bekenntnis zu einer Korrektur, sollte diese nötig werden: «Besteht ein langfristiges Ungleichgewicht in der Vertretung der Sprachregionen bei den Mitgliedern des Ständerates, kann das Gesetz eine zeitlich befristete Massnahme zur Korrektur dieses Ungleichgewichts vorsehen.» Einige sehen dies als Zusicherung, andere als nichts mehr als schöne Worte. ((Nicht lustiger) «Fun» Fact: es ist exakt das gleiche Wording, das für die Vertretung der Geschlechter gewählt wurde. Hier ist es für die meisten ausreichend.) 
    Was es für das Oberwallis schwerer macht, ist die Wahl mit einem einzigen Wahlzettel. Es können keine gemeinsame Listen mehr erstellt werden, d.h. kein Päckli mit einer/einem Unterwalliser:in, das zu mehr Stimmen aus dem Unterwallis führt und somit zur Wahl verhilft.
  • Staatsrat: Wie in der alten Verfassung wird je min. ein Mitglied aus einer der Regionen Ober-, Mittel- und Unterwallis gewählt. Neu besteht der Staatsrat jedoch aus 7 Mitgliedern. Aktuell haben wir 2 Oberwalliser Staatsratsmandate. Auch wenn dies so bleibt sind 2 von 7 natürlich weniger (29%) als 2 von 5 (40%). D.h., bei sieben Staatsräten schwindet der Einfluss des deutschsprachigen Wallis im Staatsrat. Dafür fällt die Bezirksklausel. Es wird also nicht mehr nötig sein, den Wohnsitz zu wechseln, wenn zwei aussichtsreiche Kandidierende im gleichen Bezirk wohnen. Was ja absurd war. 
  • Grossrat: neu werden die Sitze anhand der Wohnbevölkerung verteilt und nicht mehr anhand der Schweizer Bevölkerung. Längerfristig werden sich die Anteile der Wohn- und Schweizerbevölkerung über die Regionen hinweg gemäss von Prognosen voraussichtlich angleichen, dies macht also dann keinen Unterschied. Kurzfristig verliert das Oberwallis so zwei Grossratsmandate. Hinzu kommt: Die Bevölkerungszahlen im Oberwallis steigen im Vergleich zum Unterwallis nicht im gleichen Mass an. Also werden die Mandate über die Jahre hinweg voraussichtlich abnehmen, bleiben aber proportional zur Bevölkerungszahl.

Erfahrungsgemäss hält das Oberwallis jeweils ein Ständeratsmandat und zwei Staatsratsmandate. Ob dies so bleiben wird, ist aufgrund der Bevölkerungsentwicklung unsicher und wir haben es verpasst, hier namhafte Garantien in die neue Verfassung zu schreiben. 

 

Doch wir dürfen nicht vergessen, dass wir in der Schweiz zur deutschsprachigen Mehrheit gehören. Und dass sich die Mittelwalliser:innen in ihrer Mentalität uns oft näher fühlen, als den Unterwalliser:innen. Wir dürfen den Politiker:innen des Kantons auch zutrauen, dass sie sich jeweils für den ganzen Kanton engagieren, und nicht nur für ihre Region. Und wir dürfen davon ausgehen, dass kompetente und gut vernetzte Oberwalliser:innen weiterhin gewählt werden.

Wollen wir die kantonale Spaltung heraufbeschwören? Oder die Vielfalt feiern?

Ich kann verstehen, dass die oben beschriebenen Unsicherheiten als gravierend wahrgenommen werden. Ich möchte aber nicht in den Kanon der kantonalen Spaltung einstimmen. Im Gegenteil, ich sehe mich in der Verantwortung, hier entgegenzuhalten. Und mit mir die Medien und die Parteien. Wir bemühen dieses Bild ständig. Können wir nicht den Blickwinkel wechseln? Die Stärken betonen? Die sprachliche, regionale und kulturelle Vielfalt? Die in der Verfassung im Übrigen oft erwähnt ist? Z. B. grad im Artikel zum Tourismus? Können wir nicht Zuversicht ausstrahlen? Auf die Gemeinsamkeiten hinweisen? Dass wir im Ober- und im Unterwallis Bergler:innen sind? Im Ober- und im Unterwallis eine lebendige Industrie haben? Dass Ober- und Unterwalliser:innen das Wallis über alles lieben (wer mir nicht glaubt, lese Sarah Jollien-Fardells «Lieblingstochter»). Ich weiss nicht, wo wir im Verfassungsrat diesbezüglich falsch abgebogen sind. Auf einmal tönte es nur noch nach drohender Spaltung. Ich habe da eingestimmt, muss ich selbstkritisch sagen. Aber ich will  dieses Lied nicht weiter singen. 

 

Ich weiss, ich habe verschiedene Hüte an. Viele in meiner Partei stehen der neuen Verfassung kritisch bis ablehnend gegenüber. Ich kann das nachvollziehen, auch wenn ich es bedaure. Als Co-Vizepräsidentin sollte ich vielleicht diese Haltung mittragen. Aber ich bin auch auch Co-Programmleiterin Gewaltfreie Erziehung bei der Stiftung Kinderschutz Schweiz, Co-Präsidentin von Elternbildung CH und Stiftungsrätin von Mitmänsch Oberwallis. In diesen Rollen fällt es mir leicht, die Verfassung zu unterstützen. Denn alles, wofür ich mich in diesen Rollen einsetzte, steht nun in diesem Entwurf. 

 

Für viele stehen die politischen Institutionen im Fokus der neuen Verfassung. Für mich sind auch die Grundrechte und Aufgaben des Staates sehr wichtig, gerade in unserem föderalistischen System. Diese haben vielleicht einen grösseren, direkteren Impact auf den Alltag der Bevölkerung. Wenn ich alles in die Waagschale werfe, kommt für mich ein Ja heraus. Am Ende ist es aber ein Entscheid, der jede und jeder von uns selbst fällen muss und darf. In diesem Sinne wünsche mir, dass sich viele Menschen nun in den Diskurs einbringen, dann selbst ein Bild machen, und dann im Frühjahr 2024 abstimmen werden. 

 

Ich bin überzeugt, dass wir selbst etwas gegen die Spaltung des Kantons tun können. In dem wir anerkennen, dass wir die kantonale Einheit vielleicht anders definieren müssen. Was uns eint, ist doch auf eine Art und Weise der Stolz, Walliser:in zu sein. Dass die meisten von uns so gerne hier sind. Weggehen und wiederkommen. Dass die Bergtäler Kraftorte sind, die Städte im Tal etwas Mediterranes haben, vielleicht sogar etwas Urbanes. Dass wir naturverbunden sein können, vielleicht etwas eigen, diesen Stolz haben, den andere so bewundern, dass wir traditionsbewusst sein können und gleichzeitig innovativ und progressiv. Dass wir die kantonale Vielfalt anerkennen, die uns auszeichnet. 

 

Zurück zur Ausgangsfrage: Kann man die neue Verfassung als Oberalliser:in annehmen? Natürlich kann man das. Es ist eine Frage der Gewichtung. Oben habe ich dargelegt, was aus meiner Sicht Gutes drin ist, was fehlt. Nun ist es an jeder und jedem Einzelnen von uns, selbst zu entscheiden. Und an die Urne zu gehen. 

Ein Nachtrag oder: zum Weiterlesen.

Bei der Schlussabstimmung stimmten 8 Frauen Nein und 37 Ja. Das gibt einen Ja-Anteil von 82%. Gut, es waren weniger Frauen aus dem Oberwallis im Verfassungsrat, dies hat evtl. einen Einfluss. Aber auch die Frauen aus dem Oberwallis haben zu 55% mit Ja gestimmt. Die neue Verfassung scheint für die Mehrheit der Frauen also gut zu sein, selbst wenn der Text zur politischen Vertretung der Frauen im Allgemeinen genau gleich lautet wie der für die Regionen im Ständerat. 

 

Lest gerne auch den Artikel von Adrien Woeffrey im Walliser Boten: Hat das Oberwallis wirklich verloren, wenn es nichts «gewinnt»? Er schliesst mit den Worten: «Zu Recht haben Oberwalliserinnen und Oberwalliser das Gefühl, dass ihre Anliegen wenig bis kein Gehör gefunden haben. Weil es schlicht und einfach stimmt. In Anbetracht aller substanziellen Veränderungen, mehrheitlich Verbesserungen, die die Verfassungsrevision aber mit sich bringt, wäre es schlicht und einfach eine verpasste Chance, sich in rund einem Jahr nur von diesen Emotionen leiten zu lassen.»


Danica Zurbriggen Lehner

3920 Zermatt