Das Bundesgericht hat in mehreren Urteilen eine Praxisänderungen im Unterhaltsrecht eingeleitet. Kurz: Frauen müssen nach einer Scheidung ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Vorweg: ich finde das richtig. Aber...
Die Urteile zielen aus gleichstellungspolitischer Sicht in die richtige Richtung. Sie werden der gesellschaftlichen Realität jedoch (noch) nicht gerecht.
Eine kleine Auslegeordnung.
Um was geht es?
Bei den wegweisenden Bundesgerichtsurteilen geht um die Frage, inwieweit den Eheleuten nach der Trennung oder Scheidung die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zumutbar ist. Bislang wurde einer Person, die während der Ehe nicht erwerbstätig war und das 45. Altersjahr erreicht hatte, nach der Scheidung die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht zugemutet. Sie konnte sich ihren Unterhalt durch den oder die Ehepartner:in finanzieren lassen. Dies gilt nun nicht mehr so absolut, es muss der Einzelfall geprüft werden. Neu wird auch bei über 45-jährigen Eheleuten davon ausgegangen, dass ein Wiedereinstieg in eine Erwerbstätigkeit zumutbar ist, sofern auch tatsächlich die Möglichkeit einer Erwerbstätigkeit besteht und keine kleinen Kinder zu betreuen sind. (Eine umfassende Darstellung zu den Urteilen findet sich bei humanrights.ch.)
Jene, die ein traditionelles Modell leben, um die 45 sind, sich grad in Trennung oder Scheidung befinden, diese trifft dies sehr hart. In den meisten Fällen sind dies Frauen. Für jüngere Frauen und Männer, Paare die gerade eine Familie gründen, für sie muss es nun heissen, dass sie die Erwerbstätigkeit nicht aufgeben, immer darauf achten, dass beide Partner:innen finanziell unabhängig bleiben.
Und auch Politik und Wirtschaft müssen sich nun schleunigst auf den Weg machen.
Das gelebte Familienmodell entspricht dieser neuen Praxis (noch) nicht.
Das traditionelle Modell ist in der Schweiz noch weit verbreitet. D.h.: In zwei Dritteln der Familien mit Kindern unter 25 Jahren arbeitet der Vater Vollzeit, die Mutter arbeitet Teilzeit oder ist nicht erwerbstätig. Dies zeigt die folgende Abbildung aus dem neusten Familienbericht des Bundesamts für Statistik:
Nun kann man sagen: Welches Familienmodell gewählt wird, ist eine freie Entscheidung. Doch so einfach ist es nicht. Einerseits sind gesellschaftliche Erwartungen und Rahmenbedingungen prägend. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist in der Schweiz nach wie vor sehr schwierig. Dies liegt an der Haltung der Arbeitswelt, wo Fehlzeiten aufgrund von Elternschaft und Kinderbetreuung (Mutterschafts- oder Vaterschafts«urlaub», kranke Kinder, Anlässe von Kindern), nach wie vor nicht gern gesehen werden. Es liegt an den teuren und v. a. in ländlichen Gebieten immer noch mangelhaften Möglichkeiten zu familienergänzender Kinderbetreuung, an Schul- und Ferienzeiten. Ich selbst fand die Familienorganisation viel einfacher, solange die Kinder noch klein und nicht in der Schule waren. Dann fing das Organisieren erst richtig an. Mit unterschiedlichen Schulzeiten, langer Mittagspause, Schulanlässen.
Und hier will ich einen Punkt ergänzen, der mir sehr wichtig ist: Bei all den Diskussionen rund um Erwerbstätigkeit, Gleichstellung geht für mich die Perspektive der Kinder oft unter. Kinder brauchen Eltern und Bezugspersonen, die verfügbar sind. Emotional und physisch. Das ist klar. Gerade die ganz frühe Kindheit ist prägend für die Bindung. Deshalb fände ich eben eine Elternzeit auch sehr wichtig und die aktuelle Regelung ungenügend. Die Erwartungen an Eltern sind zurecht auch hoch, was die Kindererziehung betrifft. Doch manchmal denke ich, wird dies auch überhöht. Kinder brauchen verlässliche Bezugspersonen, ja. Das muss aber nicht während 24h und 7 Tagen die Mutter sein. Auch nicht der Vater.
Nicht nur ist es für die Kinder «schön», wenn ein Elternteil zu Hause ist. Die ganze Familienorganisation ist auch einfacher, wenn jemand hauptverantwortlich ist für Schule, Hausaufgaben, Arzttermine, Geburtstagspartys, das Koordinieren von Hobbies, Betreuen eines kranken Kindes. Wenn das nicht jeweils abgesprochen werden muss. Deshalb kann ich es nachvollziehen, wenn Paare diese Organisationsform wählen. Wir müssen uns aber auch bewusst sein, dass dies ein riesengrosser Luxus ist.
Schliesslich geht es in der ganzen Thematik auch um Rollenbilder für die Männer und auch hier spielen gesellschaftliche Erwartungen hinein. Der Vater als Ernährer. Oft höre ich: Meine Frau «muss» nicht arbeiten gehen. Während der funktionierenden Ehe vielleicht nicht. Aber falls es zur Scheidung kommt wärs gut gewesen. Auch für den Mann übrigens. Und auch was die Organisation der Kinderbetreuung nach der Scheidung betrifft. Aber das ist ein anderes Fass, das ich hier nicht aufmache.
Alleinig Ernährer:in zu sein bringt auch viel Druck mit sich. Was, wenn der Job gekündigt wird? Wenn man diesen gerne wechseln möchte? Ein Unterbruch, eine Weiterbildung wäre vielleicht möglich, wenn die andere Person eine zeitlang überbrücken kann. Auch das ein Vorteil, wenn beide erwerbstätig sind.
V.a. jungen Paaren, die vor der Elternschaft stehen, muss also klar werden, dass sie von Anfang an über ihre jeweilige finanzielle Absicherung sprechen und diese klären müssen. Dabei gilt es, gar nicht oder nur möglichst kurz aus dem Erwerbsleben auszusteigen.
Denn nach einer längeren Pause wieder ins Erwerbsleben einzusteigen ist sehr schwierig, insbesondere wenn während der Abwesenheit keine Weiterbildungen absolviert wurden. Ein Ausstieg oder nur sehr kleine Pensen haben auch Lohneinbussen zur Folge. Angerechnet werden nur Berufsjahre und Aus- und Weiterbildungen (was ich sehr bedaure und wo ich mir eine Änderung wünsche. Die gesammelten Erfahrungen aus der Familienzeit sollten auch einbezogen werden). Und sehr oft werden Anstellungen unter 50% bei einem neuen Job bei der Lohneinstufung nicht einberechnet. Selbst erlebt.
Ein Weckruf für Paare. Aber auch für Politik und Wirtschaft.
Mein Credo lautet immer, dass beide Personen über den Verlauf ihres Erwerbslebens je 70% arbeiten sollten. Nicht nur im Falle einer Trennung oder Scheidung, auch bezüglich der Altersvorsorge. 70% ist noch viel. V.a. für Frauen, die auch den grössten Teil der Care-Arbeit übernehmen. Oft kommt deshalb der Einwand, viele Frauen, würden gerne weniger arbeiten und sich um die Familie kümmern. Natürlich, das kann ich nachvollziehen. Aus den oben genannten Gründen, aus Liebe, weil Familienarbeit Freude macht.
Am Ende muss aber die Rechnung aufgehen. Es nützt nichts, aus Liebe zu den Kindern und zum Partner zu Hause zu bleiben und die unbezahlte Care-Arbeit zu übernehmen, wenn am Ende einer Ehe oder Partnerschaft oder bei der Pension das Geld für den eigenen Unterhalt nicht reicht. Hier haben wir selbst eine Verantwortung. Als Einzelperson, als Paar. Aber eben auch als Gesellschaft, Wirtschaft, Politik. In der Haltung, in den Arbeitsbedingungen, in den Rahmenbedingungen, die zur Verfügung stehen.
Es braucht endlich Lösungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Ich wäre ja für eine neue Zeitpolitik. Eine schöne, noch utopische Idee. Mehr oder weniger rasch umsetzbare und konkretere Ideen sind (und hier wiederhole ich mich): eine gleichberechtigte Elternzeit, verfügbare und zahlbare Kinderbetreuung, Tagesschulmodelle, Lohngleichheit, flexible Arbeitsmodelle für Frauen und Männer.
Die genannten Bundesgerichtsurteile sind ein Weckruf. Für uns alle.
Wer weiterlesen mag
- In der Zeit wurde zum Muttertag ein Bericht zum Thema publiziert. Ein Beispiel aus Deutschland, das hierzulande genau so erzählt werden könnte.
- Ein sehr schönes Plädoyer für eine gleichberechtigte Partnerschaft und Liebe auf Augenhöhe (und damit einen Frontalangriff auf das Konzept der romantischen Liebe) hat Nils Pickert vor kurzem in seinem Buch Lebenskompliz*innen verfasst. Sehr, sehr grosse Leseempfehlung. Es geht dort nicht in erster Linie um finanzielle Unabhängigkeit, sondern um Gleichberechtigung im umfassenden Sinn.
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