Chancengerechtigkeit als Ziel und Herausforderung des Bildungssystems

Wir verfolgen in der Schweiz einen meritokratischen Ansatz. D.h. bei uns entscheidet die Leistung über Bildungschancen. So die Grundhaltung. Doch stimmt das? Vermögen wir dies einzulösen? Und wenn nicht, was gibt es für Lösungsansätze?

 

"Chancengleichheit ist der Orientierungspunkt, möglichst hohe Chancengerechtigkeit ist das Ziel." So beschreibt es der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), in einem Positionspapier. 

Begriff und verfassungsmässige Grundlage

Die Begriffe Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit werden seit den 1960er Jahren stark diskutiert. Gemäss dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation soll Chancengerechtigkeit es ermöglichen, dass Menschen ihr Begabungspotenzial voll ausschöpfen können und die Fähigkeit entwickeln, eigenständig zu handeln. Sie eröffnet ökonomische und soziale Chancen unabhängig von Geschlecht, Nationalität, Alter, Herkunft, Religion, sozialem Status oder von körperlicher, geistiger oder psychischer Behinderung. Grundlage dafür bietet die Bundesverfassung im Art. 8 "Rechtsgleichheit":

 

"Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. (Absatz 2)"

 

Das bedeutet: Systemisch bedingte Benachteiligungen müssen verhindert werden. Der Auftrag ist klar. Doch die Umsetzung schwieriger. Bezogen auf das Bildungssystem zeigen beispielsweise Ergebnisse der PISA-Studien, dass der sozio-ökonomische Status der Eltern einen grossen Effekt auf den Bildungserfolg der Kinder hat.

Bildungserfolg ist in hohem Mass zufällig.

Ich gebe zu, das ist eine steile These. Sie stammt nicht von mir, sondern von Winfried Kronig:

 

In einer Leistungsgesellschaft gelten Unterschiede im Prinzip nicht als ungerecht, sondern sie werden als Ergebnis unterschiedlicher individueller Leistungen interpretiert. Doch wenn die Leistungsunterschiede oder Möglichkeiten bei der Wahl von Bildungsangeboten auf möglichen systemisch bedingten Benachteiligungen beruhen, werden sie als ungerecht empfunden. Wie bereits erwähnt: bei uns in der Schweiz hat die Herkunft einen grossen Einfluss auf den Bildungserfolg. Damit ist oft die sozioökonomische Herkunft gemeint. Aber auch schlicht und einfach der Wohnort kann einen Einfluss haben. Winfried Kronig beschreibt dies als "systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs". Er führt dabei drei Aspekte auf, welche dies begünstigen: 

  1. die Noten: sie haben eine grosse Bedeutung bei der Selektion. Kronig zeigt anhand von Studien auf, dass sie sehr anfällig für eine Reihe von Verzerrungen sind und deshalb oft an der eigentlichen Leistung vorbeiurteilen. Ein Grund sind zum Beispiel generelle Beurteilungstendenzen (s. dazu auch der Pygmalioneffekt): Mädchen werden bisweilen anders beurteilt als Jungen; Kinder aus unterprivilegierten Familien werden tendenziell strenger beurteilt. Die meisten Lehrpersonen wissen um solche Effekte. Sie sind seit vielen Jahren Gegenstand der pädagogischen Ausbildung. Aus diesem Grund wird je länger je mehr nach alternativen Beurteilungsformen gesucht. 
  2. der Referenzgruppenfehler: er entsteht dadurch, dass sich Schulklassen in ihrem Leistungsspektrum wesentlich unterscheiden. Konkret bedeutet dies, dass die leistungsstärkste Schülerin einer Klasse zu den Schwächsten gehören würde, sässe sie in einer anderen Klasse. So kommt es vor, dass dieselbe Leistung in Mathematik oder in den Sprachfächern in einer Klasse mit einer ausgezeichneten und in einer anderen Klasse mit einer ungenügenden Note bewertet wird. In schlechteren Schulklassen ist es für den einzelnen Schüler und die einzelne Schülerin folglich einfacher, zu guten Noten zu kommen, und umgekehrt. Womit wir wieder bei der Vergleichbarkeit und damit der Aussagekraft der Noten sind.
  3. der Wohnort: Was eine gute Schülerin, ein guter Schüler ist, hängt nicht nur von der Schulklasse ab, die sie oder er besucht, sondern auch vom Wohnort, in dem sie oder er aufwächst. Sehr konkret zeigt sich das an der Selektion auf der Sekundarstufe I. Während man in einem Kanton besser als vierzig Prozent der Mitschülerinnen sein muss, um der Selektion in eine Realklasse zu entgehen, reicht es in einem anderen Kanton schon aus, lediglich besser als zehn Prozent der Mitschüler zu sein. Regionale Analysen zeigen, dass solche Unterschiede auch innerhalb eines Kantons auftreten. Nur wenige Kilometer Distanz können aus einem Niveau-1- einen Niveau-2-Schüler und aus einer Sonderklassen- eine Regelklassenschülerin machen. 

Lösungsansätze

Diese Ausführungen zeigen, dass Leistung als Argument für unterschiedliche Bildungserfolge nicht hinreichend ist, sondern dass Herkunft eine grosse Rolle spielt. Die Schule, die kompensatorisch wirken sollte, vermag dies nicht einzulösen. Chancengerechtigkeit herzustellen ist komplex und es gibt keine einfache Antworten und Lösungswege. Dennoch darf dies nicht dazu verleiten, auf dieses Ziel zu verzichten. 

 

Die Auseinandersetzung mit Fragen der Chancengerechtigkeit sollte offen und auf allen Ebenen geführt werden. So empfiehlt es der LCH. Es ist regelmässig zu klären, wie der Gerechtigkeitsbegriff gemeint ist und inwiefern das Bildungssystem ungleiche Lernvoraussetzungen kompensieren kann. 

 

Die Schule kann zwar nicht gleiche familiäre Startbedingungen schaffen oder individuelle Unterschiede ausgleichen. Aber sie kann mit hoher Professionalität darauf achten, dass gewisse bestehende Ungleichheiten nicht noch verstärkt werden. Und durch Angebote wie frühe Förderung, integrative Förderung, Coaching an Übergängen oder Hausaufgabenunterstützung können Chancenungleichheiten aktiv vermindert werden. Entwicklung ist auch möglich durch das Sichtbarmachen von guten Beispielen aus der Praxis und durch Vernetzung. 

 

Das Ziel für Politik und Bildungswesen bleibt: Alle Schülerinnen und Schüler sollen unabhängig von persönlichen und sozialen Umständen wie Geschlecht, sozioökonomischer Status oder Herkunft die gleichen Bildungschancen haben. 


Quellen:

LCH (2017): Chancen für alle: Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit. Grundlagenpapier zur Equity.

Kronig, Winfried (2007). Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs. Theoretische Erklärungen und empirische Untersuchungen zur Lernentwicklung und zur Leistungsbewertung in unterschiedlichen Schulklassen. Beiträge zur Heil- und Sonderpädagogik. Bern. 

 

Bild: unsplash.com

Danica Zurbriggen Lehner

3920 Zermatt