
Die letzten Wochen waren aufwühlend für mich. Ich werde hier nicht in die Details gehen und nicht all zu persönlich werden. Nur eine Frage, die mich sehr beschäftigt hat, die will ich erörtern.
Ich habe mir nämlich oft überlegt, ob ich zu radikal bin, zu utopisch. Als Feministin, aber auch mit meinen Ideen der Reformpädagogik, dem Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung.
Verrenne ich mich?
Da ist einmal meine Idee, dass Probleme benannt werden müssen, damit sie erkannt werden können. Am besten evidenzbasiert, mit Zahlen, Fakten, Theorien. Dann ist da der grosse Wunsch, dass sich etwas ändert, dass es vorwärts geht. Dass unsere Kinder nicht vor den gleichen Herausforderungen stehen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Dass es selbstverständlich ist, dass Eltern erwerbsarbeiten und Angestellte Familien und Bekannte haben, um die sie sich auch kümmern. Dass Care-Arbeit anerkannt ist und keine Lücken in der Altersvorsorge mehr generiert.
Und dann ist da der Anspruch, in einer Thematik «drauszukommen». Fachlich fundiert zu argumentieren. Was mir oft den Vorwurf einbringt, monothematisch unterwegs zu sein. Ich habe zwar zu vielem eine Meinung, aber ich habe nicht die Zeit, mich überall fundiert einzuarbeiten. Also habe ich drei Themen ausgewählt: Chancengerechtigkeit, Bildung, Familie. Es gibt weitere, die mich interessieren: Klima, soziale Marktwirtschaft, die Gesellschaft als Ganze. Und ich werde Zeit finden, mich breiter aufzustellen. Keine Sorge. Aber ich werde nie ein «Gemischtwarenladen».
Und natürlich ist mit Chancengerechtigkeit auch Feminismus gemeint. Dass die Chancen zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt sind, betrifft die Hälfte der Menschheit. Es ist also kein Nischenthema. Aber eins, das aneckt.
Doch, je mehr ich dazu lese, je mehr ich mich mit Gleichgesinnten austausche, und je mehr ich die geopolitische Lage verfolge, umso mehr komme ich zum Schluss, dass es noch ein sehr weiter Weg ist, bis wir die Gleichstellung der Geschlechter wirklich erreicht haben. Zu stark sind die Nutzniessenden des Patriarchats, Männer ebenso wie Frauen, die ihre Privilegien nicht aufgeben wollen. Zu gross ist der Unwille, sich mit der Thematik ernsthaft auseinanderzusetzen. Also habe ich mich entschieden, die Ungerechtigkeiten aufzuzeigen und hier einen langen Atem zu beweisen.
Und damit habe ich mich unweigerlich in eine Rolle manövriert, die ich eigentlich gar nicht gesucht habe: In die der Partycrasherin, der ewig nörgelnden, kritischen Zeitgenössin. Ich bin bereit, diese Rolle einzunehmen. Es braucht sie, damit die Problematik überhaupt ins Bewusstsein kommt, oder im Bewusstsein bleibt. Aber ich habe auch gemerkt, dass die Menschen müde sind von den immer gleichen Themen. Ich auch, übrigens. Ich auch. Und die Wirren um meine Person, um meine Funktion innerhalb der Partei, haben bei mir Spuren hinterlassen. Die Frage lautet deshalb: war, oder bin ich zu radikal?
Radikale Kompromisse
Auf der Suche nach Antworten habe ich in der «Zeit» einen Text der Journalistin Yasmine M'Barek gefunden. Sie veröffentlichte ein Buch mit dem Titel: «Radikale Kompromisse». Schon der Titel lädt zum Nachdenken ein. M'Barek schreibt, dass wir gesellschaftliche Debatten führen, ohne einen Konsens anzupeilen. Diskutieren, um der Diskussion willen, jede:r in ihrer oder seiner Position verhaftet. Sie führt dies am Beispiel des Genderns aus, das wie kaum ein anderes Thema polarisiert. Und schreibt: «Am Ende stellt das Gendern wirklich nur ein kleines Problem dar. Denn eins kann ich Ihnen bereits jetzt sagen: Auf solche Fragen wird es nie die eine Antwort geben (...). Lassen Sie mich zu dem kommen, wofür ich plädiere: Kompromisse. Damit meine ich nicht das verhätschelte Aufgeben der Demokratie, also das stumpfe Akzeptieren eines «Mehr ist nicht zu holen», sondern den naiven Kern unserer Politik: Das höchste Gut der Demokratie ist der Kompromiss, aus ihm speist sich all das, was unser System eigentlich so stark macht.» Der Kompromiss also. Der Urkern der Schweizer Politik.
Damit ein Kompromiss gefunden werden kann, braucht es aber eine Diskussion an den Polen. Braucht es verschiedenste Lösungsansätze, muss argumentativ verhandelt werden. M'Barek beschreibt es so: Idealist:innen zeigen die Probleme auf, Realist:innen suchen Lösungsansätze, die Stagnierenden werden überzeugt.
Es braucht also beide: Idealist:innen und Realist:innen. Ich verorte mich irgendwo dazwischen: Ich zeige die Probleme auf und versuche gleichzeitig, Lösungsansätze mitzuliefern. Vielleicht mögen diese aktuell noch idealistisch oder utopisch klingen, wie die Idee einer neuen Zeitpolitik, die Frigga Haug und Franziska Schutzbach in der Vier-in-einem Perspekive formulieren. Die Idee: Menschen können jeweils die gleiche Summe Zeit – vier Stunden am Tag – für die Lebensbereiche Erwerbsarbeit, Fürsorgearbeit, Kultur und Politik aufwenden. Eine Verkürzung der Vollerwerbsarbeitszeit also. Oder mit anderen Worten, eine 4-Tage-Erwerbsarbeitswoche. In der Zeit für Selbstfürsorge bleibt. Vielleicht braucht es noch etwas Zeit für diese und andere Ideen. Und eben Menschen, die sie immer wieder einbringen. Die Geschichte zeigt, dass es für eine gesellschaftlichen Umbruch einen langen Atem braucht. Und so komme ich zum Schluss, dass ich vielleicht tatsächlich manchmal etwas radikal unterwegs bin, dass dies aber völlig in Ordnung ist und dass es das auch verträgt, so lange ich realistische Lösungsansätze nicht aus den Augen verliere. Auch bereit bin, kleine Schritte in die richtige Richtung anzuerkennen. Oder den ersten Schritt zu gehen.
Und Pausen mache, damit der lange Atem bleibt, der nötig ist, um radikale Kompromisse zu finden. Denn wie heisst es so schön?
Learn to rest, not to quit.
Zum Weiterlesen, als Inspiration, und für eine Neubewertung des Begriffs «radikal» empfehle ich die Ideenkolumne «Freie Radikale» von Teresa Bücker.