Über (meine) Ansprüche ans Mutter sein.

Seit meinem Einstieg in die Politik habe ich mich viel mit dem Bild der guten Mutter beschäftigt.

 

Mich gefragt, ob ich mir und der Familie zu viel zumute? Wahlkampagnen, Plenarsitzungen, Fraktionssitzungen, die Erwerbstätigkeit, das Begleiten der Kinder in der Schule, in der Freizeit.

 

In Stellenprozenten geht das auf. Doch mental? 

Vorweg: alle drei Bereiche machen mir viel Freude und Spass. Ich bin gerne mit der Familie zusammen, begleite die Kinder gerne beim Aufwachsen. Bei der Arbeit bei der Stiftung Kinderschutz Schweiz übe ich aus was ich studiert habe (was in meinem Fach keine Selbstverständlichkeit ist). Ich habe eine sinnstiftende Tätigkeit und ich kann die Inhalte (mein Schwerpunkt ist die gewaltfreie Erziehung) in meinem Familienalltag integrieren. Durch die Arbeit, durch den Austausch im Team und mit anderen Fachpersonen sehe ich auch so vieles, dass ich in der Politik gerne auf die Agenda bringen möchte, verändern möchte. Ich bin voller Tatendrang. Mein Mann ist sehr präsent in der Familie und hält mir den Rücken frei, wie man so schön sagt. Und doch kommen sie immer wieder auf, diese ambivalenten Gefühle, das schlechte Gewissen gegenüber der Familie. Fragen, ob die Kinder mich nicht mehr in ihrer Nähe bräuchten, mehr Support in der Schule, eine Mama die immer (physisch und psychisch) verfügbar ist. 

Über die ideale Mutter

Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm beantwortet viele meiner Fragen in ihrem neusten Buch «Du musst nicht perfekt sein, Mama». Sie schreibt darin auch von ihren eigenen Erfahrungen und zieht Ergebnisse aus ihren Studien heran.

 

So erwähnt sie zum Beispiel, «dass junge Frauen politisch, gesellschaftlich und familiär gleichberechtigt sind – aber nur bis sie Mutter werden.» Genau so habe ich es erlebt. Bis zur Geburt unserer Kinder war ich auch kaum als Feministin unterwegs. Ich dachte, das bringe ich eh alles unter einen Hut, es geht nur um gute Organisation. Weit gefehlt. Denn ich habe die Rechnung ohne mein schlechtes Gewissen gemacht, ohne die Erwartungen, die auf mich als Mutter einprasseln werden. Eigene Erwartungen, Erwartungen aus meinem Umfeld, Erwartungen der Gesellschaft.

 

Margrit Stamm schreibt, dass zur Zeit, in der sie mit zwei kleinen Kindern ein Studium begann, hohe Erwartungen an die Anwesenheit der Mütter in Familie und Haushalt gestellt wurden, jedoch weniger hohe Erwartungen an die Erziehung und Förderung der Kinder. Sie dachte damals, dass dieses Ideal der intensiven Mutterschaft bald überwunden ist. Doch es kam anders, es wurde sogar stärker.

Die Ansprüche an Erziehung und Förderung der Kinder sind gestiegen

Mit dem Einzug der Bindungstheorie in Erziehungsratgeber und Elternblogs und damit einhergehend dem Aufkommen eines bedürfnisorientieren Erziehungsstils stiegen die Ansprüche an die Erziehung. Die Erziehungsziele veränderten sich. Heute werden die Bedürfnisse der Kinder und der Eltern mehr berücksichtigt, es geht weniger ums Gehorsam sein, vielmehr um Gleichwürdigkeit und Erziehung auf Augenhöhe. Dies begrüsse ich sehr. Die Haltung ist entwicklungsorientiert, im Fokus stehen das Stärken der Selbstwirksamkeit der Kinder, deren psychische Gesundheit und somit der Erwerb von Lebenskompetenzen. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass dieser Erziehungsstil aufwändiger ist als jener, der vor 40, 50 oder mehr Jahren vorherrschte. Eben, unsere Erwartungen an die Erziehung sind gestiegen. 

 

Hinzu kommt, dass Kinder gefördert werden wollen bzw. sollen. Die Hirnforschung schreibt von sensiblen Phasen. Diese wollen genutzt werden. Ich bin diesbezüglich recht entspannt und eine grosse Verfechterin vom freien Spiel. Unsere Kinder spielen denn auch viel zusammen und lieben «freies Programm», wie wir das nennen. Doch ich frage mich auch ab und zu: machen wir zu wenig? Sollten sie nicht doch ins Tennis gehen? Das wäre gut für die Koordination, das Erlernen von Frustrationstoleranz, die Verbindung der Hirnsynapsen. 

Verantwortlich bleibt die Mutter.

Die Ansprüche an Erziehung und Förderung sind also gestiegen. Gleichzeitig bleiben in unserer Gesellschaft die Mütter verantwortlich für Familie und Haushalt, für die Sorgearbeit. Mit der Geburt der Kinder wird von ihnen erwartet, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellen. Wir Frauen haben dies so sehr verinnerlicht, dass wir es oft gar nicht hinterfragen, es als unsere Bestimmung ansehen. Nun rücken immer mehr auch die Väter in den Fokus. Wir wissen, dass auch sie eine enge Bindung zu den Kindern aufbauen, dass sie mit den Kindern anders umgehen, ihnen andere Kompetenzen beibringen und somit eine wichtige Rolle für die kindliche Entwicklung spielen. Aus der Resilienzforschung ist bekannt: Kinder brauchen mindestens eine verlässliche Bezugsperson. Diese kann (muss aber nicht) die Mutter sein. Diese wichtige Rolle kann auch der Vater, oder eine andere Bezugsperson übernehmen und, ganz wichtig, sie kann geteilt werden. 

Jetzt kommt der Neoliberalismus ins Spiel

Wenn ich diese Zeilen schreibe höre ich in meinem inneren Ohr: Das macht ihr ja schon. Das können Paare ja auch bereits, es ist ihre eigene Entscheidung. Denn: Familie ist Privatsache. Es entspricht unserem neoliberalen Zeitgeist, an dieser Stelle auf dir Selbstverantwortung aufmerksam zu machen. Ich kann dem Konzept der Selbstverantwortung viel abgewinnen. Gleichzeitig orte ich genau hier die grosse Schwierigkeit, aus dem idealen Mutterbild herauszukommen. Wenn Familie als Privatsache abgetan wird, weigert sich die Politik und weigert sich die Wirtschaft angemessene Strukturen bereit zu stellen. Die jetzigen Strukturen orientieren sich jedoch an einem traditionellen Modell der männlichen Erwerbsarbeit, in dem sich die Frauen und Mütter um die Fürsorgearbeit kümmen (ich denke da nicht nur an die Begleitung der Kinder, auch an Haushalt, Betreuung von kranken und betagten Angehörigen) und die Männer und Väter damit entlasten. Im vorherrschenden System wird «Berufstätigkeit vor die Bedürfnisse der Familie gestellt» (Stamm). Diese Trennung ist nicht mehr zeitgemäss. Frauen und Männer tragen heute gemeinsam zum Einkommen bei und übernehmen in der Familie gemeinsam Verantwortung für die Sorgearbeit. Care- und Erwerbsarbeit können nicht mehr getrennt gedacht werden. Diese Veränderung muss im Mindset der Politik und Wirtschaft noch ankommen. Wir können nicht mehr so tun, als hätten unsere CEOs, Mitarbeitenden und Politikerinnen bzw. Politiker keine Fürsorgepflichten.

Zurück zu meinem Mutterbild

Dass das Thema vermehrt in Büchern und auf den sozialen Medien aufpoppt zeigt mir, dass ich mit meinen ambivalenten Gedanken nicht alleine bin. Zu wissen, dass ich einem Idealbild verfalle, hilft mir, meine Gedanken einzuordnen und gelassener zu werden. Ich weiss ja aus meinem Studium auch, dass wir uns als Eltern gerne überschätzen (der Begriff dazu: Elterndeterminismus). Nicht nur wir Eltern haben einen Einfluss auf die Entwicklung unserer Kinder. Es prägen auch die Schule, Freundinnen und Freunde, das ganze soziale Umfeld. Wir Eltern  - oder Mütter - können nicht alles kontrollieren. Und das ist gut so. 

 

Ich weiss nun aber auch, dass ich es alleine nicht schaffe, das idealisierte Mutterbild zu ändern. Es braucht dazu auch Veränderungen in der Gesellschaft, in der Wirtschaft, in der Politik. 

Literatur, zum Weiterlesen

Viele Antworten zu meinen Fragen habe ich aus dem Buch von Margrit Stamm erhalten:

Stamm, Margrit (2020). Du musst nicht perfekt sein, Mama. Piper. 

 

Zum Weiterlesen (weil etwas breiter argumentierend, sehr differenziert und auch sehr anregend) empfehle ich:

Susanne Mierau (2019): Mutter.sein. Von der Last eines Ideals und dem Glück des eigenen Wegs. Beltz

 

Foto: unsplash.com

Danica Zurbriggen Lehner

3920 Zermatt